Begleitpogramm Robert Walser

L E S U N G  F I L M  P O D I U M

zur Uraufführung robert walser – mikrogramme
das kleine Welttheater

LESUNG

Astrid Gorvin liest „Fritz Kochers Aufsätze“

So 10.04. 2005 11.30 Uhr
PROBEBÜHNE CUVRYSTR. BERLIN 

Fritz Kochers Aufsätze

„Fritz Kochers Aufsätze“, Robert Walsers Erstling, führt an den Beginn einer unkonventionellen Wirkungsspur und eigenwilligen künstlerischen Selbstverwirklichung des Dichters, der lebenslang ein Knabe bleiben wollte. Geprägt von großer Lebensfreude an allem, was da ist, von einer natürlichen Schlichtheit des Stils, die sich schon hier zur raffinierten Technik ausbildet, sind die fingierten Schulaufsätze das früheste Beispiel der später immer wiederkehrenden Rollenprosa bei Walser, eine frühe Einübung in die Lebenskunst und eine erste Maskerade mit autobiografischen Hintergründen. Dies um so mehr, seit man seit neuestem weiß, das es jenen Schüler Fritz Kocher tatsächlich gab und er nur wenige Plätze vor Robert Walser in dessen Schulzeit die Schulbank drückte.

FILM

Der Vormund und sein Dichter
von Percy Adlon

Fr 15.04. 2005 23.15 Uhr
PROBEBÜHNE CUVRYSTR. BERLIN 

FILM

INSTITUT BENJAMENTA 
von Brothers Quay

Fr 15.04. 2005 23.15 Uhr
PROBEBÜHNE CUVRYSTR. BERLIN 

LESUNG

Lena Stolze und Christian Bertram lesen
„Der Spaziergang“

So 24.04.2005 11.30 Uhr
PROBEBÜHNE CUVRYSTR. BERLIN 

LESUNG MIT MUSIK

Simone Bernet und Christian Bertram lesen
„Der Spaziergang“ mit Annemette Pødenphandt (Gesang) und Rasmus Kjøller (Akkordeon).

So 17.09.2006 11.00 Uhr
LITERATURHAUS KOPENHAGEN

Der Spaziergang

Robert Walsers „Spaziergang“, erstmals 1917 erschienen, wird als einer der schönsten Prosatexte des 20. Jahrhunderts gerühmt. Der Erzähler bewegt sich durch die Welt, schauend, sprechend, träumend, die Richtung findend und wieder wechselnd.
Es sind Gedankengänge, die diesen feineren Vagabund umhertreiben, wobei sich beim Spazieren „viele Einfälle, Lichtblitze und Blitzlichter ganz von selber einmengen und einfinden“.
Die Welt zeigt sich in ihrer Vollkommenheit, Schönheit und unrettbaren Schutzlosigkeit gezeichnet von einer unvergänglichen Vergänglichkeit. „Alles wird so sein wie es jetzt ist, durch nichts zu ersetzen – aber eben das macht seine Neuheit aus“ (Giorgio Agamben).

„Auf dem Spaziergang

dachte ich über Ziele usw.

nach und sprach zu mir,

sie ließen sich mit

konsequenter,

 

schnurgerader Verfolgung

nicht gern einfangen.

Mit Vorliebe lasse sich ein

Ziel gleichsam im Spiel

erreichen, wenn es sähe,

dass man mit ihm scherze.

Das Leben sei ja ein Herz,

meinte ich mir sagen zu

dürfen, das die Lust und

den Schmerz

kennenlernen will.

Rober Walser, mikrogramm 359/I+ 35 8/I, Bd. IV S. 68ff

„Unter Menschen, die sich

achten,möchte ich leben.“

So 17.04. 2005 11.30 Uhr
AKADEMIE DER KÜNSTE, BERLIN 

Die Podiumsdiskussion zur Aktualität und zum politisch-ästhetischen Vermächtnis Robert Walsers stellt in der Person und im Werk Robert Walsers die besondere Aktualität und Modernität seiner Weltsicht heraus.

Kleine Welten in Zeiten der Globalisierung

Die Welt gibt es nicht so einfach – so Robert Walsers dezidiertes Vermächtnis -, sie muss stets tätig gestaltet, wiedergefunden und erfunden werden. Robert Walser gab als Visionär einer weiterentwickelten Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens den jeweiligen „kleinen Welten“ ihren eigenen Wert zurück: „Mir ist alles, sogar das Kleinste viel“. Er plädierte dafür, den unterschiedlichen Welten schöpferisch mehr Geltung zu verschaffen, um den Wert einer Gemeinschaft zu stärken, die niemanden und nichts ausschließt. Somit erscheint es heute aktueller und notwendiger denn je, die von seinem Werk ausgehende Botschaft, geschichtlichen Aufgaben neu zu denken und öffentlich zu reflektieren.

Leitung und Konzept:
Christian Bertram | Simone Bernet

Eingeladene Gesprächspartner:

Adolf Muschg, Schriftsteller, bis 2006 Präsident der Akademie der Künste, Berlin, Zürich
Giorgio Agamben, Gegenwartsphilosoph, Venedig
Peter Utz, Professor der Literaturwissenschaft, Lausanne
Sabine Rothemann, Journalistin und Publizistin, Berlin
Christian Bertram, Regisseur, Berlin
Moderation:
Lothar Müller,
Redakteur Süddeutsche Zeitung, Berlin

 

Gesprächsteilnehmer

Adolf Muschg, Schweizer Schriftsteller, Präsident der Akademie der Künste Berlin bis Ende 2005, geboren 1934 in Zollikon, studierte Germanistik, Anglistik und Psychologie. 1970-1999 Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der ETH Zürich. Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt sowie der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Mit zahlreichen Preisen für sein literarisches Schaffen geehrt, führten ihn Lesereisen nach Deutschland, England, Holland, Italien, Japan, Kanada, Österreich, Portugal, Taiwan, USA. Lebt in Männedorf bei Zürich.

Giorgio Agamben, Gegenwartsphilosoph, geboren 1942 in Rom, studierte Jura, Literatur und Philosophie. Seit Ende der achtziger Jahre beschäftigt er sich vor allem mit politischer Philosophie. Herausgeber der italienischen Gesamtausgabe der Werke von Walter Benjamin. Er lehrt zur Zeit Ästhetik und Philosophie in Venedig und hatte Gastprofessuren unter anderem in Paris, Berkeley, Los Angeles, Irvine. In seinen philosophischen Betrachtungen des gegenwärtigen „Ausnahmezustands“ entwirft er – auch bezugnehmend auf Robert Walser – die Idee einer kommenden Gemeinschaft. Lebt in Venedig.

Peter Utz, Literaturwissenschaftler, geboren 1954 in Biel; studierte Germanistik und Geschichte. Seit 1987 Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Lausanne. Sein Forschungsgebiet umfasst die deutsche Literatur vom 18. Jhdt. bis zur Gegenwart, insbesondere die Schweizer Autoren des 20. Jahrhunderts. Er zählt zu den Vertretern der deutschsprachigen Robert-Walser-Forschung mit zahlreiche Artikeln in Sammelbänden, Zeitschriften und Zeitungen. Lebt in Lausanne.

Sabine Rothemann, Journalistin und Publizistin, geboren 1962 in Offenbach am Main. Studierte Germanistik, Philosophie und Romanistik in Tübingen und Frankfurt am Main. Mitherausgeberin der Literaturgeschichte „Die literarische Moderne in Europa“. Wissenschaftliche und publizistische Arbeiten zu Robert Walser. Als freie Publizistin seit 1995 Essays zu Literatur, Kunst und Gesellschaft. Arbeiten für den Rundfunk. Lyrik- und Prosaveröffentlichungen. Lebt in Berlin.

Christian Bertram, Regisseur, geboren 1952 in Berlin, studierte Germanistik, Theaterwissenschaft und Geschichte. Theaterinszenierungen u.a. von Bertolt Brecht, Samuel Beckett, Marguerite Duras, Pierre Corneille, Paul Celan; Radio- und Fernsehregien sowie Arbeiten im Rahmen von Kunstausstellungen an der Wiener Secession (Pierre Klossowski) und der Kunsthalle Wien (Barocke Party). Christian Bertram ist Initiator und Regisseur der Uraufführung des Projektes „robert walser mikrogramme das kleine welttheater“. Lebt in Berlin.

„Ganz ungewöhnlich zart sind diese Geschichten, das begreift jeder. Nicht jeder sieht, dass nicht die Nervenspannung des dekadenten, sondern die reine und rege Stimmung des genesenden Lebens in ihnen liegt. „Mich entsetzt der Gedanke, ich könnte Erfolg in der Welt haben“, heißt es bei Walser in einer Paraphrase von Franz Moors Dialog. All seine Helden teilen dies Entsetzen. Warum aber? Durchaus nicht aus Abscheu vor der Welt, sittlichem Ressentiment oder Pathos, sondern aus ganz epikuräischen Gründen. Sie wollen sich selber genießen. Und dazu haben sie ein ganz ungewöhnliches Geschick. Sie haben auch darin einen ganz ungewöhnlichen Adel. Sie haben auch dazu ein ganz ungewöhnliches Recht. Denn niemand genießt wie der Genesende.“

Walter Benjamin

„Walsers Gehilfen scheinen keine Hilfe geben zu können. Sie sind Mitarbeiter an einem vollkommen überflüssigen Werk. Wenn sie studieren, dann tun sie es, um eine kugelrunde Null zu werden. Und warum sollten sie sich an dem beteiligen, was die Welt für ernst hält, wenn es doch in Wahrheit nur Wahnsinn ist?“

Giorgio Agamben

Warum war und ist Robert Walser so wichtig für mich? Giorgio Agamben

Walsers philosophischer Spaziergang

Warum war und ist Robert Walser so wichtig für mich? Ich glaube, daß das, was ich in seinem Werk sehe, so etwas wie ein Experiment ist, ein sehr besonderes Experiment, – einfach: ein Experiment.

Nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Literatur und im philosophischen Denken gibt es Experimente. Diese Experimente betreffen nicht wie im Fall der wissenschaftlichen Experimente die Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer Hypothese, sondern stellen das menschliche Dasein in Frage. Sie vollziehen eine anthropologische Verwandlung des menschlichen Daseins. Und derjenige, der diese Experimente durchführt, riskiert nicht so sehr die Wahrheit seiner eigenen Aussagen als vielmehr die Art und Weise seines Daseins. Er vollzieht so etwas wie eine anthropologische Mutation, die auf ihre Art ebenso entscheidend ist, wie einst die Befreiung der Hand für die Primaten oder die Umformung der verlorenen Gliedmaßen für die Reptilien, die sie in Vögel verwandelte.

Um welche Verwandlung geht es bei Walser?

Walser beschreibt wie Kafka Formen und Gestalten des Daseins, die nicht mehr menschlich sind, aber auch nicht mehr göttlich oder tierisch. Das Experiment, das Walser durchführt, ist dabei ebenso wichtig und neu, wie das Experiment, das Heidegger in Sein und Zeit machte, indem er das psychosomatische Ich durch ein leeres und wesenloses Sein ersetzte, das nichts anderes ist und darstellt als seine Seinsweise selbst und das eine Möglichkeit nur im Unmöglichen hat.

In diesem Sinn ist Walser, wie Kafka, ein Theologe, wenn Theologie der Ort ist, wo neue menschliche Gestalten erprobt werden.

In meinem Buch Die kommende Gemeinschaft habe ich Walsers Gestalten mit den Kreaturen verglichen, die im Limbus wohnen. Dem Theologen zufolge, kann die Strafe der ungetauften Kinder, die ohne jede Schuld gestorben sind, keine qualvolle Strafe sein; sie besteht lediglich in der Vorenthaltung der Anschauung Gottes. Da diese Geschöpfe aber nur eine natürliche und keine übernatürliche Erkenntnis haben, wissen sie nicht, daß sie des Höchsten Gutes beraubt worden sind. Die schlimmste Strafe – der Entzug der Anschauung Gottes – verkehrt sich für die Bewohner der Vorhölle so in einen Zustand natürlicher Fröhlichkeit.

Diese vorhöllische Fröhlichkeit ist das Geheimnis von Walsers Geschöpfen. Sie leben jenseits von Verdammnis und Heil. Sie kennen weder Mensch noch Gott, weder Gesetz noch Schicksal. Auf immer verloren, verweilen sie schmerzlos in ihrer Gottverlassenheit.

Aber ich möchte noch ein weiteres Beispiel anführen. Nehmen Sie die Gestalten aus Walsers Roman Der Gehülfe, die auch bei Kafka erscheinen und für Walsers Welt so wichtig sind. Bei Kafka sind die Gehilfen Mittelwesen zwischen Engeln und Beamten. Angelologie und Bürokratie sind bei Kafka ein und dasselbe. Bei Walser aber haben die Gehilfen eine messianische Bedeutung.

Der grosse Sufi-Denker Ibn-al-Arabi kennt Gestalten, die er Gehilfen des Messias nennt oder arabisch Wuzara, der Plural von Wazir (Wesir). Die Wuzara oder Gehilfen sind Menschen, die in der profanen Zeit schon die Kennzeichen der messianischen Zeit an sich haben, schon dem letzten Tag angehören. Sie sind Übersetzer der Sprache Gottes in die Sprache der Menschen. Merkwürdige Wesen, werden sie unter den Nichtarabern ausgesucht, sind Fremde unter den Arabern und schwer zu erkennen, fast unscheinbar.

Die Vorstellung, das Reich sei in der profanen Zeit nur in zwielichtigen und unscheinbaren Formen gegenwärtig, daß die Elemente des Endzustands sich in dem verstecken, was heute schändlich und lächerlich erscheint, ist ein tiefes messianisches Thema und auch ein tiefes Thema von Walsers theologischer Lehre.

Walsers Gehilfen scheinen keine Hilfe geben zu können. Sie sind Mitarbeiter an einem vollkommen überflüssigen Werk. Wenn sie studieren, dann tun sie es, um eine kugelrunde Null zu werden. Und warum sollten sie sich an dem beteiligen, was die Welt für ernst hält, wenn es doch in Wahrheit nur Wahnsinn ist?

Da gehen sie lieber spazieren.

In den Werken Spinozas gibt es nur eine einzige Stelle, an der er sich der Muttersprache der sephardischen Juden bedient…. Es handelt sich um eine Passage, in der Spinoza die Bedeutung der immanenten Ursache erklärt, das heißt einer Handlung, die sich auf den Handelnden selbst bezieht, in der aktiv und passiv ein und dieselbe Person sind. Um ein Beispiel für diesen sehr wichtigen Begriff zu finden, sieht sich Spinoza gezwungen, auf seine Muttersprache zurückzugreifen. Spazierengehen heißt in jenem Spanisch, das die Sepharden sprechen, pasearse – sich-promenieren, also den Spaziergang begreifen als ein Sich-spazieren-führen, ein Sich-gehen-lassen.

In diesem Sinn ist der Spaziergang Robert Walsers ein Mittelwesen zwischen Tun und Nichttun, Aktivität und Passivität, Sein und Nicht-Sein. Der Spaziergang ist das messianische Paradigma, das Walsers Kreaturen der Menschheit als Erbe hinterlassen.

Förderer und Partner

Mit freundlicher Unterstützung von:

Hauptstast Kulturfonds; Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung;
Stanley Thomas Johnson Stiftung, Bern; Fonds Darstellende Künste, Bonn; Ernst Göhner Stiftung, Zürich; Familie-Vontobel-Stiftung, Zürich; Kulturförderung Kanton Solothurn; Schweizerische Botschaft Berlin; Max Dudler – Architekturbüro; Zampf Umzüge GmbH, Klaus Zapf; Brauerei Locher AG, Faber-Castell AG, Goba AG


Partner und Kooperationen:

Unter der gemeinsamen Schirmherrschaft des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Klaus Wowereit und der Schweizerischen Botschaft in Deutschland, Dr. Werner Baumann; Robert Walser-Stiftung, Zürich; Berliner Senatsverwaltung für Kultur; Schweizerische Botschaft Kopenhagen, KOPENHAGENER WALSER-TAGE; Dritten Herisauer Robert Walser-Sommer, Leitung Barbara Auer.

 

Verlage und Medienpartner:

Suhrkamp Verlag Berlin, tip Berlin, zitty Berlin, Kulturradio rbb,
Berliner Tagesspiegel, Appenzeller Verlag Herisau

 

        

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